Sport und Integration

Fitness im Viertel

Tor zum neuen Zeitalter


Gemeinnützige Sport- und Begegnungsstätte stößt Tor zu neuem Zeitalter auf.

Zwischen dem Moritzberg im Westen, dem Helios-Klinikum Hildesheim im Osten, dem Hohnsensee im Süden und dem Marienfriedhof im Norden befindet sich die Steingrube 27, die Heimat von Fitness im Viertel. Der Blick auf Google-Maps verdeutlicht einmal mehr, wie zentral der Standort des Fitnessstudios für jedermann und jede Frau ist. Auf gut 500 Quadratmetern, wobei nicht jeder Meter voll ausgenutzt werden kann, da es sich bei diesem Fitnessstudio um einen ehemaligen Supermarkt handelt und für die eingebauten Kühlräume noch keine vernünftige Verwendung gefunden wurde, können sich Jugendliche im Alter von 16 bis 26 Jahren auspowern.

Wie groß dieser Gymnastikraum in Wirklichkeit ist und was dort so abgeht, fällt beim lockeren Vorbeigehen gar nicht auf. Lediglich die teilweise durchklingende Musik wie Deutschrap oder Hip-Hop, alles, was die Jugendlichen gerade so hören und was sie auch beim Sporttreiben motiviert, lässt erahnen, dass Heranwachsende dort Zeit verbringen. Wie es überhaupt zu dieser Idee, der Umsetzung bis hin zum Vorbildcharakter dieses Projektes kam, erzählt uns Christian Köpper, Diplom-Sozialpädagoge und Inhaber der Cluster Sozialagentur, und holt dafür erst einmal tief Luft.

„In der sogenannten Flüchtlingskrise, die in den Jahren 2015/2016 ihren Höchstwert an Zuwandern in Deutschland erreichte, haben wir mit ungefähr achtzig unbegleiteten Minderjährigen mit einem hohen Bewegungsdrang in einem Hotel eine Riesenmaßnahme gestartet. Daraufhin haben wir mit vielen Fitnessstudios Verträge abgeschlossen. Die Kids trainierten an den Geräten in den zahlreichen Muckibuden ohne Anleitung, sodass sie teilweise den Rücken oder andere Körperteile in Mitleidenschaft zogen und der gut gedachte Ansatz dieser Idee in einer Negativerfahrung endete. Wir wussten, dass es einen Riesenbedarf gibt, aber so konnten wir es nicht umsetzen.“

Auf über 300 Quadratmetern im umgebauten Supermarkt können sich die Jugendlichen mehr als austoben

Deshalb war für Christian Köpper sofort klar, dass er weitermachen muss. Er und sein Team sahen in dieser Idee auch eine Veränderung der Jugendarbeit, die seiner Meinung nach längst nicht mehr zeitgemäß ist. „Ohne das als Vorwurf zu sehen, aber ein Kickertisch und ein Billardtisch in jedem Dorf und die Kinder basteln zu lassen ist ja nicht mehr zukunftsträchtig“, sagt Köpper zu den vielerorts bestehenden Jugendmaßnahmen. Er sieht in dem Feld bestehend aus der Jugendarbeit, dem Sport und der sozialen Arbeit einerseits den Bedarf, andererseits aber auch, wie wenig gute Lösungen dafür existieren.

Wie ein guter Zufall stolperte Köpper dann über eine Ausschreibung der Stadt Hildesheim, die auf Geheiß des europäischen Sozialfonds das ortsgebundene Rahmenprogramm „Jugend stärken im Quartier“ ausschrieb. Die Richtlinien passten mit dem Vorhaben vom Cluster e. V. in vielen Aspekten überein, weshalb sich der Verein mit Erfolg auf diese Förderung bewarb.

Als der Sportverein Eintracht Hildesheim, der laut den Zahlen aus dem Jahr 2018 den fünften Rang der mitgliederstärksten Sportvereine in Niedersachsen einnimmt, auch noch auf Christian Köpper zukam und ihm mehrere Sportgeräte für eine geringe finanzielle Entschädigung anbot, entstand aus seiner anfänglichen Idee ein umsetzungsfähiges Projekt. „Da brauchte ich nicht lange zu überlegen. Wir haben dann den Antrag für den Kauf der aus einer Haushaltsauflösung entsandten Geräte gestellt und uns auf die Suche nach einer passenden Location gemacht“, beschreibt der Sozialpädagoge die ersten Schritte der Umsetzung vom Projekt Fitness im Viertel (FIV). Die Anfrage des Großvereins aus Hildesheim war zeitgleich die Initialzündung, um der Jugendarbeit ein zeitgemäßeres Projekt zu präsentieren.

Köpper lebt und liebt seinen Job, das wird zu jeder Zeit deutlich, ob er es durch seine Gestik, seine Mimik, seine flammenden Appelle oder einfach seine innovativen und stets unermüdlichen Ideen zeigt. Durch dieses authentische Auftreten, gepaart mit Fachwissen und Engagement, hat man selbst als Außenstehender das Gefühl, Teil seiner Ideen zu sein. Er beobachtet immer mehr, dass sich die Jugendlichen statt am Krökeltisch oder Fußballkicker vielmehr körperlich messen wollen und verweist auf die Social-Media-Plattform Instagram. „Die Jugendlichen posten doch viel lieber ästhetische Bilder von ihren Muckis. Da kommt der Billardtisch nicht hinterher“, begründet Köpper seine Sichtweise.

Mit der erlebten Negativerfahrung im Hinterkopf und der Bestätigung, dass sich die Jugendlichen im Alter von 16 bis 18 Jahren oder älter meist nur eine Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio leisten können, wo ohne Anleitung möglicherweise auch aus Stolz der eigene Körper in Mitleidenschaft gezogen wird, reifte die Idee zu einer sozialen und sportlichen Begegnungsstätte. Deshalb durfte bei der Suche nach den passenden Räumlichkeiten keine Zeit verloren werden. Die ersten Lokalitäten, auf die der Sozialarbeiter Christian Köpper von der Firma Cluster Sozialagentur und das Team vom Verein namens Cluster e. V., dem gemeinnützigen Pendant zum Cluster-Unternehmen, aufmerksam gemacht wurden, entsprachen zwar in der Größe, allerdings nicht in der Verkehrsanbindung ihrer Vorstellung. „Wir sind alle sehr bequem geworden, deshalb sollte der Raum idealerweise auch zu Fuß für die Jugendlichen zu erreichen sein“, mahnt Köpper.

Gedankenschnell, kreativ, immer das Ziel vor Augen und fast schon leichtfüßig widmet sichFitness im Viertel den Wünschen der Jugendlichen

Als eine Art Glücksfall entpuppte sich der Supermarkt an der Steingrube 27, der zweieinhalb Jahre leer stand. Wie etwas aussieht, was über einen solch langen Zeitraum keine Beachtung findet, braucht man nicht zu beschreiben, Köpper macht es in seiner direkten und jugendlichen Art aber dennoch: „Wenn ein Supermarkt eine gewisse Zeit lang nicht genutzt wird, dann fängt es die Straße an zu nutzen.“ Das hässliche Entlein wurde nicht nur aufgrund seiner perfekten Lage zum schönen Schwan und zu einem Zufluchts- sowie Rückzugsort vieler Hildesheimer Jugendlicher. Zunächst wurden mit tatkräftiger Unterstützung der Verantwortlichen die Graffiti an der Häuserwand entfernt, ehe sich der Supermarkt durch Unterstützung wie Firmenspenden, Sachspenden oder Ähnlichem in ein Fitnessstudio für Jugendliche verwandelte.

Wie eine solche Sachspende aussieht, zeigt das folgende Beispiel über die Anschaffung eines neuen Rudergerätes im Wert von circa 900 Euro. „Unsere Jugendlichen haben den Wunsch nach diesem Gerät geäußert, sodass wir uns nach einer Lösung umgeschaut haben“, skizziert die erste Vorsitzende Anja Hühne die Beweggründe und ersten Schritte der Errungenschaft. „Wir haben dann einen Sponsor gefunden, der allerdings eine Bedingung an seine finanzielle Unterstützung knüpfte“, so Hühne weiter. Die Jugendlichen sollten sich ihr neues Rudergerät erarbeiten. Bei der Frage nach dem Wie zählte der Sponsor auf die Kreativität der Verantwortlichen von Fitness im Viertel. „Es wurde lediglich eine gewisse Stundenanzahl für die Geldsumme festgelegt“, führt sie fort.

Unter dem Motto „Fegen im Viertel“ sammelten die jungen Heranwachsenden in Hildesheim Anfang April Müll und belohnten sich am Ende mit „ihrem“ neuen Rudergerät selbst. Felix Jahn, Geschäftsführer des Cluster e. V., ergänzt, dass die Art Gegenleistung für die monetäre Vergütung des Sponsors als pädagogische Komponente genutzt wurde, um sie für das Thema außerhalb des Sports zu sensibilisieren.

Dieses kleine Projekt innerhalb des Großprojektes Fitness im Viertel ist ein Paradebeispiel, wie kreativ, aber auch gedankenschnell mit den Wünschen der Jugendlichen umgegangen wird.

Die Projekte wie Fitness im Viertel und somit auch die Müllsammelaktion klärt der Inhaber der Cluster Sozialagentur, Christian Köpper, auf, sind eben nicht nur für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge etwas, sondern für jedermann. Die Möglichkeit des aktiven Sporttreibens agiert dabei als niedrigschwelliges Hilfsangebot. „Was ist denn beispielsweise mit den Schulverweigerern oder den Jugendlichen, die sich den Jugendhilfesystemen sowie den Jugendarbeitssystemen entziehen?“, merkt Köpper an, stellt aber auch klar, dass sich schon Student:innen im Fitnessstudio in der Steingrube 27 ausgepowert haben. „Wir wollen ja eben genau diese Heterogenität. Wir bieten ein Angebot für junge Leute an, warum sollten wir differenzieren? Das Ziel ist schon, die Schwererreichbaren zu erreichen, aber prinzipiell ist es für alle offen.“ Mit den Worten „Wir wollen gerade die Durchmischung, die Begegnungen, die unterschiedlichen Altersgruppen“ wird Köpper deutlich und lobt zu Recht das Projekt: Es funktioniert doch auch bestens und es ist einfach schön hier.“ Die angebotenen Projekte, die Expansion im inhaltlichen Sinne sowie die zahlreichen Jugendlichen geben ihm recht.

Mittlerweile sind Konzepte aus dem Sektor der sozialen Arbeit wie das Projekt namens Rebound beispielsweise an das Hildesheimer Fitnessstudio mitangebunden. Hierbei handelt es sich um Maßnahmen der Jugendberatung, sodass für Jugendliche mit einem Beratungs-, Hilfs- sowie Vermittlungsbedarf Lösungen bis hin zu Vermittlungen in andere Angebote gefunden werden. Der angebotene Sport im Fitnessstudio dient dabei zum einen für das In-Kontakt-Treten, da der Zugang in einem solchen Kontext ein ganz anderer ist, und bietet zum anderen eine andere Atmosphäre. Mithilfe des sogenannten Schwarzen Brettes werden den Jugendlichen auch Angebote anderer Einrichtungen präsentiert, sodass den Teilnehmern neben der sportlichen Komponente auch eine informative zur Seite gestellt wird. Ab und zu finden im Fitnessstudio auch Workshops statt, entweder selbst oder von anderen Einrichtungen fremdorganisierte. Dieses Angebot komplettiert die soziale Komponente von Fitness im Viertel, weshalb es sich auch nicht als „normales“ Fitnessstudio, geschweige denn als Konkurrent anderer Muckibuden sieht.

Das Hinzufügen von anderen Projekten oder Erweiterungen im inhaltlichen Sinne hat auch Auswirkungen auf den sportlichen Kontext, der sich seit 2017 immer wieder gewandelt hat. „Anfangs hatte Fitness im Viertel nur dreimal in der Woche seine Tore für die Jugendlichen geöffnet“, berichtet Anja Hühne. Dieser gemeinnützige Verein, anders als die wirtschaftlich orientierte Cluster Sozialagentur mit Christian Köpper, ist für die gesamte Durchführung, Organisation und Abwicklung des Projektes FIV zuständig. Die Idee kam allerdings auch vor allem aus der Sozialagentur, weil eben beide Gemeinschaften den Zweck der „Förderung von Jugendhilfe“ verfolgen (siehe Grafik S. 27).

„Wir wollen ja eben genau diese Heterogenität. Wir bieten ein Angebot für junge Leute an, warum sollten wir differenzieren?“


Montags, mittwochs und freitags hatte das Fitnessstudio anfänglich offen. Diese drei Tage verkörperten einerseits die Testphase und andererseits boten sie einen idealen Kompromiss, um mit der Ressource Arbeitskraft hauszuhalten. „Die Resonanz war einfach so gut“, stellt Hühne klar und verweist auf den anfänglichen Mitgliederboom kurz nach der Eröffnung von FIV. Binnen weniger Wochen registrierten sich über achtzig Jugendliche. Mit den Worten „Da war das Projekt noch komplett neu“ probiert die Vorsitzende des Cluster e. V. und Mitarbeiterin der Cluster Sozialagentur, diesen Mitgliederanstieg einzuordnen. „Diese Nachfrage hatte dann zur Folge, dass wir das Fitnessstudio jeden Tag geöffnet haben, also montags bis freitags, um da einfach kontinuierlich am Ball zu bleiben und noch mehr Jugendliche abzuholen“, führt Anja Hühne weiter fort.

Dabei weiß die Vorsitzende ganz genau, wie vielfältig und teilweise auch verplant die Freizeit der Jugendlichen ist. Das musste ihr Team im vergangenen Sommer dann auch am eigenen Leib erfahren, als das Fitnessstudio in den Sommermonaten sehr wenig beziehungsweise gar nicht besucht wurde. Im Umgang mit Herausforderungen sind die Verantwortlichen jedoch schon längst erprobt. In erster Linie hinterfragen sie sich selbst, was sie verbessern könnten oder möglicherweise noch gar nicht berücksichtigt haben. „Das Fernbleiben der Jugendlichen hat sich dann allerdings schnell von selbst gelöst, als das Wetter wieder schlechter wurde“, erklärt Hühne den Weg aus der Krise.

„Wir verbuchen immer mal wieder An- und Abstiege, wobei wir uns gerade auf einem Anstieg befinden, den ich nicht vorherzusehen vermag.“ Auf das Wetter und die festen Begebenheiten wie beispielsweise die Ferien findet Fitness im Viertel immer die passenden Antworten. Paradoxerweise wird das Fitnessstudio in der Ferienzeit weniger angenommen, obwohl die Jugendlichen theoretisch gesehen viel mehr Zeit hätten. Deshalb gibt es in diesen Phasen immer gewisse Schließzeiten, die sich aber nicht über die gesamte Distanz der Schulferien ziehen. Hinzu kommt, dass sich das gesamte Team als sehr familienfreundlich beschreibt, sodass den Mitarbeiter:innen, die ohnehin Anspruch auf Urlaub haben, dieser selbstverständlich auch in den Ferien gewährt wird. Das Miteinander wird nicht nur beim Projekt Fitness im Viertel, sondern in all den durchorganisierten Konzepten des Cluster-Verbundes eben sehr großgeschrieben. Ihre Ansätze scheinen auf den ersten Blick also anders zu sein, doch stoßen sie damit ein Tor zu einem neuen Zeitalter auf?

Auch im sportlichen Kontext agieren und reagieren sie anders, als es ihnen in zahlreichen Fitnessstudios vorgelebt wird. „Die räumlichen und finanziellen Voraussetzungen haben uns dazu bewegt, das Studio so zu gestalten, dass es den Jugendlichen Geräte für große Muskelgruppen und für den Kraftbereich wie Bankdrücken, Kreuzheben und Kniebeugen als Powerlifting bietet. Zusätzlich wurden verschiedene Möglichkeiten geschaffen, mit dem eigenen Körpergewicht zu trainieren, wie beispielsweise Klimmzug- und Dipstangen, Mattenflächen und Sprungkisten“, erklärt Florian Wiechmann das sportliche Konzept. Den Posten des Studioleiters hatte er von 2017 bis 2019 inne, ehe Marvin Schiller diesen Job übernahm.

„Die Resonanz war einfach so gut“, dass Fitness im Viertel mittlerweile von montags bis freitags seine Tore für die Jugendlichen öffnet

Beim Rundgang durch die über 300 Quadratmeter Sportfläche wird dies auch schnell deutlich. Neben mehreren Kardiogeräten, die zum Aufwärmen vor dem Training genutzt werden, fallen einige gut ausgewählte Trainingsgeräte und ein ordentlicher Kraftbereich ins Blickfeld. Zusätzlich können die Jugendlichen den Boxsack, die Springseile oder ein Battle-Rope nutzen, um sich auszupowern.

Abseits der Sportgeräte wurde eine Art Aufenthaltsraum mit Stühlen und einem Tisch eingerichtet, damit die Jugendlichen netzwerken oder einfach auch abschalten können, beispielsweise beim Unterhalten. Dass diese Ecke auch angenommen wird, untermalt Köpper mit folgender Aussage: „Es gibt auch Leute, die sich hier einfach mal zum Schnacken treffen. Wir mussten dann aber nicht eingreifen oder intervenieren“, sagt er angesprochen auf eine zu große Geräuschkulisse oder das Missachten von Regeln.

„Wenn es Regeln gibt, dann die des zwischenmenschlichen Verhaltens“, erklärt er und stellt mit Erstaunen fest, dass trotz der über zwanzig verschiedenen Kulturen keine größeren Zwischenfälle wie Raufereien oder Ähnliches vorgefallen sind. Hierfür stellt er drei Hypothesen auf. „Erstens baut der Sport ja bekanntlich Frust ab. Zweitens ist Sport in jeder Sprache und jeder Kultur gleich und drittens sorgt die Anerkennung der Leistungen der Jugendlichen untereinander für den nötigen Respekt.“ Dass die Jugendlichen im Studio des Projektes Fitness im Viertel nach gewissen Regeln, ohne dass sie irgendwo speziell niedergeschrieben und ausgehängt wurden, spielen, zeigt, wie wohl und auch akzeptiert sie sich fühlen (wobei mittlerweile doch eine fest fixierte Hausordnung vorliegt).

Es haben schon über 300 Jugendliche die Räumlichkeiten von Fitness im Viertel aufgesucht und sich registrieren lassen. Mithilfe des Anlegens von sogenannten Fallakten, für die die Jugendlichen teilweise schon sehr pikante Fragen wie „Lebst du in einer Bedarfsgemeinschaft?“ oder „Wie sieht es mit deinem sozialen Umfeld aus?“ beantworten müssen, wird das Vorgehen und in gewisser Weise auch die Daseinsberechtigung des Projektes überprüft. Die Koordinationsstelle der Stadt Hildesheim besteht auf diese Evaluierung, weil das Rahmenprogramm „Jugend stärken im Quartier“ ein EU-Projekt ist, sodass die Fallakten die Karteien eines kommerziellen Fitnessstudios widerspiegeln.

Bei der genauen Betrachtung dieser Kartei fällt eines allerdings auf: Die männlichen Teilnehmer sind den weiblichen Teilnehmerinnen gegenüber deutlich in der Überzahl. Das ist auch dem Team vom Cluster e. V., bestehend aus der Vorsitzenden Anja Hühne, dem Geschäftsführer Felix Jahn, dem Projektleiter Marvin Schiller sowie den Trainern bewusst, sodass sie hier ein großes Potenzial für die Zukunft sehen.

Das Equipment ist vielseitig. Laufbänder zum Aufwärmen, klassische Geräte zum Bankdrücken oder auch Matten oder Klimmzugstangen für das Trainieren mit dem Eigengewicht

Mithilfe von Kursen, sprich geschlossenen Sportangeboten wie Yoga oder Tae Bo, soll das weibliche Geschlecht mehr angelockt werden. Die Überlegungen reichen von zwei bis drei Stunden Training an einem speziellen Tag nur für Frauen bis hin zu speziellen Übungen wie beispielsweise dem angesagten Belly and Back Fat, der englischen und moderneren Weiterführung von Bauch, Beine, Po, um die Zahl von vierzig angemeldeten Frauen in nächster Zeit zu erhöhen. „Es gab einfach europaweit keine Projekte, an denen wir uns orientieren konnten“, sagt Köpper und macht auf den Charakter des Konzeptes aufmerksam. „Wir sind ein Modellprojekt, also probieren wir gerne aus. Das liegt einfach in unserer Natur und das ist eben auch das Spannende.“

Dass das Projekt Fitness im Viertel gar keine Vorbilder für die Orientierung hat, wissen wahrscheinlich die wenigsten. Das liegt mutmaßlich an der reibungslosen, getakteten Organisation und dem Eigenantrieb der Verantwortlichen, sich stets weiterzuentwickeln sowie zu verbessern. Genau diese Denkweise hat dem Projekt FIV zu seinem jetzigen Stellenwert verholfen, der auch Menschen von außerhalb nicht unbekannt geblieben ist.

Das Jugendzentrum Nordstemmen, kurz JUZ 110, hat auf Basis von Fitness im Viertel einen Fitnessraum in kleinerem Stil etabliert. Und auch den Kooperationspartner Eintracht Hildesheim hat dieses Projekt von der Steingrube nachhaltig beeindruckt. Die Vereinsmitglieder planen gerade ein mobiles Fitnessstudio, für das sie schon fleißig Gelder generieren. Das Gefährt, bestückt mit ein paar Fitnessgeräten und weiterem Sportmaterial, soll durch die Stadtparks fahren und auf der Grundlage der Freeletics-­Bewegung cool und modern zum Sporttreiben im Grünen animieren.

„Es ist doch schön, dass Leute schauen, wie sich Jugendarbeit verändern kann. Wenn unsere Idee dann noch andere zum Nachmachen anregt, die Idee weitergetragen wird und die Leute mit Anerkennung von diesem Projekt sprechen, haben wir doch schon sehr viel erreicht, und das ist genau das, was wir wollten“, sagt Köpper voller Stolz. Seine Augen fangen hinter seiner schwarzen, mit silbernen Bügeln abgesetzten Brille an zu glänzen. Dabei merkt man einmal mehr, mit welch einer Leidenschaft, Hingabe und auch Begeisterung sich die Mitarbeiter:innen nicht nur mit dem Projekt Fitness im Viertel befassen. Der ansonsten gut ausgeleuchtete umgebaute Supermarkt wandelt sich durch die Gutherzigkeit und Energie, die die Verantwortlichen dieses Projektes mit jedem Satz zu ihrer Tätigkeit, den Hintergründen der Projekte oder anderen Einzelheiten versprühen, zu einer Art Heizofen, der nicht nur hell in seinem Glanz erstrahlt, sondern auch Herzenswärme ausstrahlt.

Bei all dem Stolz vergessen Köpper und das gesamte Team rund um ihn nicht, wer an der Umsetzung dieser Idee alles beteiligt war und auch noch ist. „Es gab nirgends ein Modellprojekt wie dieses, und dass wir das geschafft haben, ist etwas ganz Besonderes.“ Die Verbindung bestehend aus der Förderzusammensetzung mit der Stadt Hildesheim, den europäischen Geldern, den Stiftungen sowie zahlreichem Wohlwollen aller Beteiligten, dieses Konzept auch in die Tat umzusetzen, haben es überhaupt möglich gemacht. In all der Dankbarkeit steckt trotzdem auch die Ungewissheit bezüglich der Zukunft.

„Wir leben quasi von der Hand in den Mund“, stellt Köpper klar. Das Projekt ist nicht vorfinanziert, jährlich müssen sich die Verantwortlichen nach passenden Förderern umsehen, mit der Skepsis, dass eines Tages aufgrund der Finanzierung das Projekt vorzeitig beendet werden muss. Zumindest ist ihnen bis Mitte 2021 die Hälfte der Gesamtkosten sicher, da bis dahin die Förderzusage des EU-Rahmenprogramms „Jugend stärken im Quartier“ sicher ist. Für die andere Hälfte sind sie nach wie vor auf Stiftungen wie die Niedersächsische Lotto-Sport-Stiftung, die das Projekt seit drei Jahren fördert, Firmen, Privatpersonen oder andere Institutionen mit Fördergeldern angewiesen. Damit diese Unsicherheit eines Tages zu den Akten gelegt werden kann, streben die Verantwortlichen des Projektes eine Verstetigung an und arbeiten nach wie vor an Alternativen zum Fitnessstudio an der Steingrube 27.

„Wir sind ein Modellprojekt, also probieren wir gerne aus. Das liegt einfach in unserer Natur.“

In Sachen Verstetigung, der ständigen Etablierung, wäre eine Idee, das Projekt Fitness im Viertel der sozialen Gruppenarbeit unterzuordnen, sodass FIV als Jugendhilfeprojekt angesehen wird. In diesem Fall stehen dem Projekt statt Fördergeldern von Externen wie den Stiftungen staatliche Zuschüsse im Rahmen von Jugendhilfemaßnahmen zu. „Idealerweise haben wir bis Mitte 2021 mehrere Lösungen beziehungsweise Ansätze für diese Idee, damit sich das Projekt dadurch quasi von selbst tragen kann“, formuliert Anja Hühne optimistisch die Zukunft. Felix Jahn, Sozialpädagoge sowie Sozialarbeiter, ergänzt: „Das Studio bietet auf jeden Fall viele Möglichkeiten, sodass möglicherweise die Räumlichkeiten vormittags vermietet werden können.“ Bisher öffnet das Fitnessstudio von 14 bis 19 Uhr seine Türen für die jungen Heranwachsenden. Dass andere Zielgruppen auf das Fitnessstudio mitten in Hildesheim aufmerksam geworden sind, zeigt der Mittwoch, an dem das Berufsförderungswerk ein spezielles Zirkeltraining mit seiner Klientel absolviert.

Offen sein für Neues. Das ist der Leitspruch den Fitness im Viertel verkörpert und vorlebt

Dass die Verstetigung allerdings nicht von heute auf morgen funktioniert, ist den Verantwortlichen recht klar. Deshalb testen sie immer neue Wege, probieren sich aus, wie es einfach in ihrer Natur liegt. Hierfür spricht, dass für das Kalenderjahr 2020 ein Konzept mit wohnungslosen jungen Menschen ausprobiert wird. Diese Idee ist mithilfe eines Streetworkers und der Stadt Hildesheim entstanden, sodass die wohnungslosen Jugendlichen mittels des regelmäßigen Sports ein- bis zweimal die Woche ein Ventil für den Abbau ihrer angestauten Emotionen finden und diese im geschützten Rahmen und mit Übungen wie beispielsweise dem Fitnessboxen abbauen können.

Offen sein für Neues, das ist der Leitspruch, den Fitness im Viertel verkörpert und vorlebt. Das Fitnessstudio war möglicherweise der Vorreiter, das Projekt „Open Sports“ der Nachzügler. Felix Jahn beschreibt das neue Konzept als Fitnessstudio, nur eben draußen. Die Location bieten die zahlreichen Grünflächen am Hohnsensee, einem Badesee in Hildesheim. Dieses Projekt entstand zum einen auf der Basis einer Jugendumfrage und zum anderen aus der Erkenntnis, dass offene Sportangebote mit ihrem niedrigschwelligen Zugang aus Sport und sozialpädagogischer Arbeit ein ideales Konstrukt für die offene Kinder-
und Jugendarbeit bilden.

Während der Soccercourt Ende des Jahres 2019 bereits eingeweiht wurde, befinden sich die Tanz-­Arena sowie der Basketballplatz noch im Umbau. Das zunächst auf zwei Jahre angelegte Projekt wird durch einen Sozialarbeiter betreut, der den Jugendlichen als Ansprechpartner dient. Die Weiterentwicklung von Fitness im Viertel steckt also bereits in den Kinderschuhen. „Wir wollen natürlich eine Verbindung zwischen dem Sport innerhalb und außerhalb schaffen“, gibt Anja Hühne als Schlusswort zum Besten.

Ausprobieren und experimentieren gehören für die Verantwortlichen des Projektes Fitness im Viertel einfach dazu. Dabei keine Scheu vorm Scheitern oder den verrücktesten Idee zu haben ist für sie selbstverständlich. Hinterfragen und das Gehen von neuen Wegen mit Vorbildcharakter zeichnet sie aus, wobei das Wohl der Jugendlichen und eben auch der Schwererreichbaren im Fokus steht.


Text. Louis Lambert