Sport und Integration

#sprachlernendesspiel

Sprache durch Wort und Tanz


Mit viel Freude und Leidenschaft dabei: Die Kinder der Sprachlernklasse
der Ernst-Reuter-Schule Pattensen

Was haben Begriffe wie Joghurt, Gummistiefel, Duschgel, Zeitung, Kaffee, Zahnbürste, Kartoffel und Socken gemeinsam?

Richtig, es sind alles Gegenstände aus dem Alltag, mit denen man Tag für Tag in Berührung kommt, mit Ausnahme der Gummistiefel, deren Gebrauch vom Wetter abhängt. Doch haben diese Begrifflichkeiten noch eine weitere Gemeinsamkeit, die erst im Zusammenhang des Kontextes deutlich wird.

Auf vier DIN-A4-Blättern stehen ebendiese Begrifflichkeiten, wobei insgesamt fünf Wörter aus dem alltäglichen Leben ein Blatt verzieren. Dieses doch scheinbar minimalistische Material stellt die Grundlage für das anschließende Drei-­Phasen-­Spiel gepaart mit Stopp-Tanz. Die Komponente des Bewegens ist an die Fähigkeiten des Zuhörens, des Verstehens und der diesbezüglichen Umsetzung gekoppelt.

Musikklänge erfüllen den Raum. Plötzlich wird das rhythmische Lied abrupt gestoppt. Das Aussprechen eines der zwanzig Wörter unterbricht die kurzweilige Stille, die nach dem Klick auf die Pausetaste des MP3-Players entsteht. Die weiche, aber in der Betonung doch deutliche Stimme einer der zwei Teamerinnen ertönt und legt die Handlungstätigkeit für die dreizehn wuselnden Kinder dar. Sofort wird sich auf eines der vier Blätter, die in einem sechs mal fünfzehn Quadratmeter großen Raum verteilt wurden, gestürzt. Zwischen dem Zuhören und dem Agieren liegen meist nur wenige Sekunden, da bei diesem Spiel das Motto lautet: „Die Schnellsten gewinnen.“ Oder eben: „Der Langsamste darf das Geschehen fortan von außen beobachten.“

Daher verfügen alle Kinder über eine gesunde Portion an Ehrgeiz, um diesem Spiel so lange wie möglich beizuwohnen. „Jo-ghurt“ schallt es durch den Raum, woraufhin sich die vier Jungen und neun Mädchen schleunigst zum Fenster bewegen, an dem eines der vier Blätter klebt. Die Wände und Fenster der Ernst-Reuter-Schule Pattensen müssen an diesem Tage sehr viel aushalten, da die Kinder auf dem glatten Boden mit nur wenigen Schritten eine gewisse Grundschnelligkeit binnen weniger Sekunden aufbauen können. Deshalb strecken die meisten Kinder auch circa zwei Meter, bevor sie die Wand beziehungsweise das Fenster berühren, ihre Arme als eine Art Sicherheitsabstand vor sich aus, um so den Aufprall abzufangen.

Die Studierenden Caro und Paula schauen sich gemeinsam mit den Kindern eine Aufführung einer Sprachlernklasse an

Mit diesem Spiel eröffnen die beiden Teamerinnen, Caro und Paula, die gut eineinhalb Stunden des wöchentlich stattfinden Projektes #sprachlernendesspiel (SLS). Das Warm-up-Spiel gleich zu Beginn der Stunde soll einerseits die Schüler:innen der Gesamtschule auspowern und andererseits spielerisch auf die nächsten neunzig Minuten vorbereiten. Nach der Bewegungskomponente folgt eine auditive Aufgabe, in welcher den im Kreis sitzenden Kindern zwei Videos von vorherigen Theatergruppen als Beispiele nacheinander auf einem in der Mitte stehenden Laptop gezeigt werden. Neugierig und hoch konzentriert blicken die vielen Augen auf das Medium, wobei Zwischenrufe wie „cool“, „voll schön“ und „wir können es besser machen“ für Schmunzler und leichte Lacher in der ansonsten fokussierten Atmosphäre sorgen.

Anschließend wird das gesehene Geschehen abgefragt und auf das Vorwissen aus den vergangenen Stunden zurückgegriffen. Daraufhin fallen Wörter wie chorisches Sprechen oder Nachfragen zu Begriffen wie „protestieren“ werden geklärt. Bei der Klärung der unbekannten Begrifflichkeiten lassen die Teamerinnen zuerst die Kinder die Fragen beantworten, lediglich bei aufkommenden Unsicherheiten ergreifen sie das Wort. Wortkarten mit den Begriffen Pulk, chorisches Sprechen, Neun-Punkte-Feld, Freeze sowie den Raumebenen rufen den Kindern ihr Fachwissen aus den vergangenen Stunden zurück in ihr Gedächtnis. Des Weiteren erlangen alle Teilnehmer von #sprachlernendesspiel durch diese Art der Wiederholung einen gemeinsamen Wissensstand, der für den nachfolgen Arbeitsauftrag essenziell ist.

Doch bevor sich die Kinder mit diesem befassen, wird ihnen eine fünfminütige Pause gewährt, in der sie sich austoben, ihr Handy benutzen oder „ums Eck“ gehen dürfen. Jedes Kind setzt in dieser kurzen Unterbrechung andere Prioritäten.

Ein Pulk steht vor den Toiletten, während andere fleißig auf dem Display ihres Smartphones tippen. Andere wiederum nutzen die würfelförmigen Sitzmöglichkeiten und klettern und springen auf ihnen herum. Die Teamerinnen merken an, dass diese Pause ausgesprochen ruhig gestaltet wurde, sodass sich relativ leicht erahnen lässt, was sonst mit den Würfeln aus Schaumstoff passiert.

„Kein Satz, keine Aktivität, keine Aufgabe wird ohne ein Lachen oder ein Grinsen getätigt.“

Die Pause ist vorbei. Nacheinander liest ein Kind nach dem anderen jeweils einen Satz des Arbeitsauftrages laut und deutlich vor. Die Teamerinnen nutzen den Wechsel des Vorlesers, um den eben gehörten Satz mit eigenen Worten zu erklären und so Verständnisproblemen vorzubeugen. Nach der letzten Erklärung teilen sich die Kinder selbstständig in zwei Gruppen auf, wobei die eine zusammen mit ihrer Teamerin den Raum verlässt und im Flur ihrer Arbeitsanweisung nachgeht.

Im ersten Step besprechen sie, welcher Satz wie ausgesprochen werden soll. Sie einigen sich, dass das Wort Digitalisierung in seine Silben getrennt und mit einer kleinen Pause zwischen jeder Silbe vorgelesen wird. Für die weiteren drei Sätze überlegen sich die Kinder wiederum andere Vortragsmöglichkeiten, Sprechweisen und Aussprachen. Im zweiten Step fügt die Gruppe den Sätzen Bewegungen hinzu, wobei auch die Position im Raum selbst bestimmt wird. Nach mehreren Proben ist die Gruppe bereit zum Präsentieren und kann es kaum erwarten, ihre einstudierte Choreografie der anderen Gruppe vorzustellen.

Die zwei Teamerinnen bestimmen mit Schere-Stein-Papier, welche Gruppe den Vorrang bekommt. Während sich die eine Gruppe formiert und aufs Vorführen vorbereitet, nimmt die andere Gruppe auf dem Boden Platz. Die Kinder schlagen mit ihren Händen auf ihre Oberschenkel und signalisieren mit diesem lauten, aber stark gedämpften Geräusch des Applauses ihre Vorfreude.

Ein Mädchen zählt den Countdown herunter, ehe alle Kinder der ersten Gruppe zur Begrüßung reinrutschen und sich als Pulk aufstellen. Wie eingefroren halten sie ihre Position einen Augenblick lang, wobei ihnen anzusehen ist, wie schwer es ihnen fällt, nicht zu blinzeln. Auf ein vorher abgesprochenes Zeichen hin setzen sie sich alle synchron in den Schneidersitz. Lautstark sagen sie den Satz „Wir wollen mehr Di-gi-ta-li-sie-rung“, wobei das letzte Wort in seine einzelnen Silben aufgeteilt wird. Für den zweiten Satz stehen die Schüler:innen der Ernst-Reuter-Schule Pattensen wieder auf, wobei der Satz in „normaler“ Lautstärke vorgetragen wurde. Dem dritten Satz verleihen sie durch ihre dem Himmel entgegengestreckten Hände besondere Aufmerksamkeit, nachdem sie aus dem Pulk heraus in verschiedenen Positionen ausgeschwärmt sind. Der vierte und letzte Wunsch der Kinder wird hingegen wieder gemeinsam als Schwarm, flüsternd und durch weiteres Kleinmachen präsentiert. Zum Abschluss des Vortrages nehmen sich die Kinder an die Hand und verbeugen sich. Die zuhörende Gruppe quittiert die Aufführung mit tobendem Applaus und Anerkennung. Was nicht fehlen darf, ist natürlich das Feedback, das erst nach dem Melden und Drangenommenwerden gegeben werden darf.

„Kein Satz, keine Aktivität, keine Aufgabe wird ohne ein Lachen oder ein Grinsen getätigt.“

Ganz aufgeregt und nervös zugleich rutschen die Kinder, die eben noch zugehört und zugeschaut haben, auf dem Boden hin und her, denn sie wissen: Gleich sind sie dran.

Beide Gruppen tauschen die Rollen, wobei die zu präsentierende Gruppe sich nicht als Pulk, sondern gleich zu Beginn in der Neun-­Felder-­Aufstellung positioniert. Nacheinander klatscht ein Kind rhythmisch in die Hände, anschließend auf die Beine und auf den Oberkörper. Nach Beendigung dieser Darbietung stellen sich die Kinder in der Mitte auf. Zuerst steht ein Kind in der Mitte, dann zwei, dann drei. Es sieht aus wie ein Fischschwarm, der nach und nach wächst. Anders als die Zugvögel stellen sich die Kinder nicht in die ­V-For­ma­tion, die auch als Winkelflug bekannt ist, auf, sondern zu einer Art Wollknäuel. Ihr erster Appell, für den sie sich einsetzen, wird laut vorgetragen, wobei zum Ende hin die Lautstärke immer weiter abnimmt. So werden auch die weiteren Wünsche der Schulkinder vorgetragen. Ihre Vorstellung endet mit dem zuvor gelernten Freeze, sodass sich alle Kinder ihre Lieblingsposition ausdenken können und diese versteinert mehrere Sekunden halten. Wie zuvor folgen Applaus und Feedback nach Beendigung der kurzen Choreografie.

Gewisse Regeln und Rituale gehören zu #sprachlernendesspiel eben dazu: das Anziehen der Schuhe gleich zu Beginn, das Melden, wenn man etwas sagen möchte, die häufigen Sitzkreise für das Zusammengehörigkeitsgefühl, das Loben als Zeichen der Anerkennung und Ermutigung und zu guter Letzt das Feedbackgeben zur Orientierung. Was dabei allerdings nie zu kurz kommt, ist der Spaß. Das Lachen und die Freude an der Sache gehören ebenso zum Projekt. Kein Satz, keine Aktivität, keine Aufgabe wird ohne ein Lachen oder ein Grinsen getätigt.

Die Unterrichtsstunden des Projektes #sprachlernendesspiel enden, wie die Stunden begonnen haben, mit einem Kreis, diesmal allerdings im Stehen. Ein Kind darf sich ein Verabschiedungsritual aussuchen und verabschiedet sich damit von jedem anderen Kind einzeln, in diesem Fall mit einem besonderen Handshake. Mit der flachen Hand wird sich kurz abgeklatscht, ehe die beiden Handrücken aneinandergedrückt werden. Anschließend wird die Hand zur Faust geformt, wobei sich diese beiden Fäuste ebenfalls berühren und ein leicht dumpfes Geräusch zu hören ist. „Ich kann das aber nicht“, heißt es von einer Teilnehmerin. „Dann gibst du eben dein Bestes“, lautet die Antwort aus dem Stehkreis.

„Kann ich nicht“, gibt es bei #sprachlernendesspiel nicht.


Text. Louis Lambert