Sport und Integration

Streetliga

Fairness zählt mehr als ein Sieg


Miteinander. Wettkampf mal anders. Emotionen. Vorurteile und Rivalitäten beiseitelegen. Einheit. Förderung der eigenen Identität. Verschiedene Kulturen.

Es ist zwanzig vor sechs. In zwanzig Minuten soll in der Sporthalle der Lutherschule in Hannovers Nordstadt ein Turnier der Streetliga stattfinden. Wie ein wild gewordener Tiger laufe ich von rechts nach links, immer auf der Suche nach dem Eingang. Ein Blick auf die Uhr lässt mein Herz etwas höherschlagen, da mir nur noch zehn Minuten bis zum Start des Turniers übrig bleiben. Ein Junge, ich schätze ihn auf 13 Jahre, kommt schnurstracks auf mich zu, und ich denke, vielleicht weiß er ja den Weg.

„Wo ist denn hier der Eingang?“, schallt es in meine Ohren. Meine scheinbare Rettung hat sich als Irrweg herausgestellt. Bei den Gedanken über meine verzwickte Situation fällt mir der Weg zu einer Hofeinfahrt auf, die an ein vorgelagertes Gebäude zur Lutherschule grenzt. Ich zucke mit den Armen, verweise allerdings auf meine eben gemachte Beobachtung. Der Junge, der aufgrund seines Turnbeutels und seiner Frage vermutlich ein Teilnehmer des Turniers ist, verschwindet genauso zielstrebig, wie er auf mich zukam. Mit etwas Verzögerung folge ich seiner Fährte, ohne ihn in den nächsten Minuten wieder anzutreffen.

Im Gebäude angekommen mache ich mich auf den Weg Richtung Sporthalle. Allerdings sind alle Türen, die ich öffnen möchte, verschlossen, und in den Umkleidekabinen ist keine Menschenseele. Kurz hinter der Eingangstür erspähe ich eine Treppe, die mir, so hoffe ich, einen Blick zur Orientierung oder den Weg zu den Tribünen verschafft. Beide Ideen ersticken im Keim, da mir die Tür angrenzend an die Treppe keinen Zutritt gewährt. Ich öffne in all der Verzweiflung Google-Maps auf meinem Smartphone, um über meinen Standort meinen gewünschten Ort zu finden. Meine Hoffnungen in die Technik zerplatzen in Windeseile durch zwei Wörter: kein Netz.

Mittlerweile zeigt meine blaue Armbanduhr 17.58 Uhr an, und der Eingang der Sporthalle ist immer noch nicht in Sicht. Angstschweiß. Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken runter. Ich hasse nichts mehr, als unpünktlich bei einem Termin aufzutauchen. Also sprinte ich die Treppe wieder hinunter und reiße erneut an jeder Tür, in der Hoffnung, dass eine die Eingangstür der Turnhalle ist. Beim dritten Mal habe ich Erfolg und stehe voller Erstaunen in der Halle. Mein Blick kreist von links nach rechts und wieder zurück. Voller Verwunderung überschlage ich die Zahl der Jugendlichen und ende bei zwölf. Sind das nicht viel zu wenige für ein ganzes Turnier? So ist das mit Erwartungen, denke ich mir. Bestückt mit Zettel und Stift mache ich mich auf den Weg zu zwei Herrschaften, die hinter einem Sprungkasten stehen. Vielleicht ist das ja die Turnierleitung, denke ich mir.

Fairnesspunkte und Spielergebnisse entscheiden über den Sieger

Mit den Worten „Ich heiße Berkant, willkommen“ und der dazugehörigen ausgestreckten Hand für den Handschlag werde ich von einem der beiden herzlichst willkommen geheißen. Doch weiter kommt unser Gespräch nicht, weil sich nach und nach die Turnhalle der Lutherschule füllt und somit auch die Anliegen an die Teamer wie beispielsweise an Berkant zunehmen. „Kannst du mir bitte einen Ball geben?“, fragt einer der gerade erst eingetroffenen Jugendlichen den 19-jährigen Teamer. Berkant verweist ihn zunächst auf das Anmeldeformular, welches zu Beginn ausgefüllt werden muss, um einen Überblick über das anstehende Turnier und die einhergehende Organisation zu bekommen. Der Jugendliche verliert keine Zeit, trägt schnell die Namen seines Teams und der dazugehörigen Mitspieler in das vor ihm liegende Anmeldeformular ein und läuft mit dem Ball unterm Arm zu seinem Torhüter. Der ist noch damit beschäftigt seine Handschuhe anzuziehen, da zappelt der Ball schon im Netz. „Schneller!“, ruft der Jugendliche seinem Schlussmann zu, und ehe ich mich versehe, springt und hechtet er von der einen in die andere Ecke, immer dem Ball hinterher.

Die nächsten Spieler verlangen einen Ball, um sich einerseits warm zu machen und andererseits die Wartezeit bis zum Turnierstart mit ihren Kumpels und dem „runden Sportgerät“ voll auszunutzen. Während die eine Gruppe, bestehend aus 13 Jugendlichen, das bekannte Spiel „Schweinchen in der Mitte“ spielt, wobei erst ein Schweinchen, dann zwei und zum Schluss sogar drei in der Mitte den Ball abfangen wollen, hält die andere Kleingruppe ihren Ball hoch.

In der Zwischenzeit ist der Organisator und Initiator, Olaf Zajonc, eingetroffen, der das Projekt namens Streetliga verkörpert und mit jeder Faser seines Körpers lebt. In seiner humorvollen und jugendlichen Art posiert er für den Fotografen und klärt mich über seinen Favoriten und den weiteren Verlauf des vierten Turniers auf. Die Halle ist inzwischen rappeldicke voll, sodass nichts mehr an den Eindruck der leeren Halle erinnert. Das langsame Eintreffen ist jugendkulturelle Normalität, erklärt mir Olaf Zajonc und verweist einmal mehr auf die Unterschiede des Projektes zum Vereinsturniersport.

„Anders als man es vielleicht von gewöhnlichen Spieltagen kennt, zählt bei uns auch die Fair-Play-Wertung am Ende mit rein.“

Ein lautes Dröhnen erfüllt den Raum und vor lauter Schock erstarrt mein Körper. Die zahlreichen Jugendlichen kennen hingegen dieses vertraute Geräusch und reagieren auf die Tröte mit lautem Gegröle. Was am Ende lauter ist, das Gegröle oder die Tröte, vermag ich bei bestem Gewissen nicht zu sagen. Je nach kulturellem Hintergrund fallen die Jubelrufe und Schreie anders aus. Auf der Suche nach dem Ursprung für das Geräusch fällt mir der angespannte Arm von Olaf Zajonc auf, der mit Freude, aber auch voller Enthusiasmus den Knopf der Druckluftfanfare drückt.

Es ist die offizielle Begrüßung und das Zeichen der Zusammenkunft. In einem Kreis wird sich zusammengefunden, ehe das Gruppenfoto als ständiges Ritual folgt. Anschließend schreibt Berkant den aktuellen Spielplan auf eine Flipchart-Tafel. Wie wild stürmen die Spieler der ersten Partie, darunter die Spieler des Teams Nordstadt, aufs Feld und können kaum den Anpfiff erwarten. Der zweite Teamer, der 19-jährige Elian, erklärt mir das Regelwerk des Turniers, indem er mit seinen Fingern auf dem Leder des Sprungkastens hin und her tippt. „Anders, als man es vielleicht von gewöhnlichen Spieltagen kennt, zählt bei uns nicht nur das Ergebnis, sondern eben auch die Fair-Play-Wertung am Ende mit rein. Bei uns wird nämlich ohne Schiedsrichter gespielt“, sagt Elian. Er führt weiter fort und ergänzt: „Wir spielen ohne die Rückpassregel, mit vier Feldspielern und einem Torwart, an der roten Linie ist Aus, und ein Spiel geht sechs Minuten lang.“

Dass die Verantwortlichen des Projektes viel Wert auf Disziplin legen, zeigen nicht nur die Fair-Play-Wertungen, die in das Endergebnis eingerechnet werden. „Dazu gehört eben auch das saubere Hinterlassen der Kabinen“, verdeutlicht mir Berkant diese spezielle Regelung. Außerdem erhält jedes Team kostenlos einen Sechserträger Wasser zu, wobei jedes Team auch darauf zu achten hat, das Pfand anschließend in die mitgegebenen Plastiktüten zu werfen. Disziplin und Ordnung, aber mit der nötigen Portion Spaß und Albernheit werden bei der Streetliga großgeschrieben. Dazu gehört eben auch, bei Fragen der Spieler zum Regelwerk ganz am Anfang im Stehkreis sich zu melden. Höflichkeit und Respekt werden verlangt, vorgelebt und durchgesetzt.

Der Kapitän des Teams Nordstadt läuft wieder vom Feld Richtung Gettoblaster. Musik ist eine sehr wichtige Komponente der Streetliga, die von afrikanischer Musik bis hin zu Deutsch-Rap reicht. Die vielen Kulturen des Turniers finden sich nicht nur im unterschiedlichen Grölen, sondern auch in der Auswahl der Musik wieder. „Olé, olé! Wie Zidane, Tunnel durch und sag dabei olé, olé. Wie Vidal, dribbel durch an ihn’n vorbei. Olé, olé! Mero, ja, Mann, ey, ey, prrra!“ Das Intro des Lieds von Mero feat. Brado scheint wie die Faust aufs Auge zu passen. Doch wenn man dem Lied weiter Aufmerksamkeit schenkt, gibt es eben doch Unterschiede zur Realität. „Keine Regeln auf der Straße, greif mich an, hol den Ball, Schienbein iz da, Streetlife, Motherfucker. Prrra!“

Auch in der Pause wird zusammen mitgefiebert

Von der Musik sichtlich aufgeladen treffen sich die beiden Mannschaften an der Mittellinie, geben sich den Handshake, ehe der Ball ins Rollen kommt. Diese sechs Minuten Spielzeit, in denen die Spieler selbst der Schiedsrichter sind und über Foulspiel oder auch das Aus bestimmen, nutzt Olaf Zajonc, um mich über das Projekt weiter aufzuklären.

„Die Anfänge des Projektes Streetliga hatten wir 2015, als wir direkt auf die Bolzplätze gegangen sind und von den Jugendlichen die Handynummern gesammelt haben. Das haben wir über einen Zeitraum von zwei bis drei Monaten gemacht. Wir haben alle zur Teilnahme eingeladen, und unsere einzige Vorgabe war es, dass die Zielgruppe nicht unter zwölf Jahre und nicht älter als 27 Jahre ist. Da wir auf bestimmte Bolzplätze in und um Hannover gegangen sind, haben wir natürlich auch Kinder mit Migrationshintergrund, aus Familien mit sozialen Problemen, mit einem geringeren Bildungsstand oder auch Arbeitslose bekommen. Kurzum: Jugendliche, die eine soziale Randständigkeit aufweisen. Dass unser Ansatz auf viel Zuspruch gestoßen ist, zeigt die Zahl der angemeldeten Teams gleich zu Beginn. Acht bis zehn Mannschaften waren sofort dabei.“ Und es sollten noch mehr werden. Die Streetliga ist mittlerweile in der Stadt zu einer festen Institution unter den Jugendlichen aus und um Hannover geworden.

Angesprochen auf die Ziele dieses Projektes legt Zajonc dar, dass es in erster Linie um die Einrichtung eines sportiven Freizeiterlebnisses geht, das Jugendlichen, die sonst nicht in einem Sportverein Mitglied sind, Räume eröffnet. „Dazu gehört eben auch, den Jugendlichen den Zugang zu Sporthallen zu gewähren, den sie, ohne Mitglied im Verein zu sein, nicht bekommen würden. Außerdem können die Jugendlichen im Projekt aktiv mitarbeiten und es nach ihren Vorstellungen, zum Beispiel in Hinsicht auf die Regeln oder die Art und Weise, wie die Turniere umgesetzt werden, gestalten. Durch dieses aktive Mitmachen sammeln die Jugendlichen wichtige Erfahrungen und erwerben nicht nur soziale Kompetenzen, sondern eben auch Know-how, wie man Projekte gut strukturiert und realistisch plant. Das nehmen sie für ihr späteres Leben mit.“

Gerade Letzteres zeigt, dass Olaf Zajonc im Streetliga-Projekt eben auch ein sozialerzieherisches Potenzial sieht. Und das wird auch bei seinem Umgang mit den Spielern deutlich. Man kann mit ihm jeden Spaß machen, aber trotzdem wird er respektiert und als Autoritätsperson gesehen. Olaf Zajonc, der Vater des Projektes, hütet an diesem Samstagabend mehr als nur sechzig Jugendliche aus über zehn verschiedenen Kulturen und lässt daraus eine große Familie entstehen.


Text. Louis Lambert